Jedes Leid zählt
Darf ich traurig sein, weil der Urlaub ins Wasser fällt? Muss ich nicht froh sein, dass ich überhaupt zeitlich und finanziell die Möglichkeit gehabt hätte, fahren zu können? Muss ich nicht still sein, weil es anderen doch so viel schlechter geht?
Im Frühjahr bekam ich ein Gespräch mit: Ein Mädchen war tief betrübt, weil ihre Abifeier aufgrund der Pandemie nicht stattfand. Der Kommentar: Andere kämpfen gleichzeitig um ihre Existenz. Das wäre ja wohl viel schlimmer, als so eine ausgefallende Abifeier.
Seit dem lässt mich ein Gedanke nicht mehr los und seit dem will ich diesen Artikel schreiben. Denn ich sehe das anders:
Jedes Leid zählt.
Natürlich sind Existenzängste im Vergleich zu einer nicht stattgefundenen Abifeier existenzieller. Aber für dieses Mädchen war die Abifeier vielleicht die ganze Welt. Sie hat sich darauf Jahre gefreut, überlegt, welches Kleid sie tragen wird, sich auf die Stimmung gefreut, vielleicht mit einem ganz bestimmten Jungen zu tanzen, endlich die Schule hinter sich zu haben, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, wo einem die Welt offen steht. Das alles zu feiern. Und dieser ganz besondere Moment fällt aus. Ich kann gut nachempfinden wie schrecklich traurig es für das Mädchen ist, diese Erinnerung nicht in ihrem Lebensalbum zu haben.
Ich finde eine Rankingliste schwierig, welcher seelische Schmerz mehr wiegt oder welches Leid "erlaubt" ist und welches nicht.
Denn jeder Schmerz, jedes Leid ist individuell. Wir haben uns auf etwas gefreut, manchmal monate- oder jahrelang und dann erfüllt es sich nicht. Und das tut weh.
Wenn ich mir eine Veranstaltung oder eine Reise gegönnt habe und ich kann sie nicht antreten, weil es ein Beherbergungsverbot gibt und ich vielleicht auf Kosten sitzen bleibe, dann schmerzt das. Ich habe Stress vorher, nachher. Und dieser individuelle Stress ist für diesen einen Menschen in dem Moment ebenso spürbar wie ein Kämpfen ums finanzielle Überleben. Natürlich ist der Kampf ums finanzielle Überleben viel anstrengender, der Stress noch größer. Aber darf nur der darüber sprechen, der das größte Leid empfindet? Nein. Jede und jeder hat das Recht dazu.
Wer im HomeOffice auf einmal keinen Kollegenkontakt mehr hat, der so wichtig für die Stimmung war, dem geht es vielleicht nicht gut. Muss er still sein, weil er froh sein kann, keine Kurzarbeit zu haben, weil er froh sein muss, überhaupt eine Arbeit zu haben? Nein.
Jedes Leid zählt.
Ich kann mich in alle Fälle hineinversetzen und nachspüren, wie stressig das Leben einer jeden Einzelnen, eines jeden Einzelnen gerade ist. Was ich genannt habe, sind Funken von Beispielen, die spiegeln, was dieses Jahr 2020 mit uns allen macht. So viele viele mehr gibt es.
Früher hörte ich mal von einer Frau, die nicht zunehmen konnte. Anfangs dachte ich: Die Probleme hätte ich auch mal gerne, dann könnte ich so viel essen wie ich will, ohne zuzunehmen. Sie soll doch froh sein. Bis ich hörte wie schlimm auch das Leid dieser Frau war, eben nicht zunehmen zu können. Nur weil ich das Problem nicht habe und aus meiner ganz individuellen Sicht meine, das Problem der anderen wäre ja wohl leichter zu bewältigen als meines, heißt das nicht, dass es das in der Realität auch so ist, wenn ich in ihren Schuhen stecke. Es ist nicht ok, ihr Problem abzuwerten.
Wir alle fühlen individuell unseren Schmerz, unsere Trauer, unsere Traurigkeit, unser Leid. Und das ist ok so. Es gibt kein besser, kein mehr Recht auf. Es gibt nur unseren individuellen Schmerz und der darf da sein.
Durchatmen. Diese Gedanken helfen mir, mit offenerem Herzen und mehr Frieden in mir hinzuhören wie es anderen geht - und vor allem auch mehr Verständnis für mich selbst zu haben.
In Liebe
Anja
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